Zukunft statt Flucht nach Vorgestern
Europa war eine Idee, die gewachsen ist aus den Trümmern unseres Kontinents, aus den Verletzungen und den am Boden liegenden Gesellschaften. Die Idee war geleitet von dem Gedanken, dass so etwas nie wieder passieren dürfte, dass Nachbarn nie wieder die Waffen aufeinander richten dürfen, dass wir als gemeinsames Bündnis Kompromisse finden müssen, für den Frieden und für die Freiheit. Der Gedanke, dass jemals ein Land beschließen sollte, aus der Union auszutreten, schien absurd – hat Europa doch den erhofften Frieden gebracht, die Demokratie und die Freiheit, in der wir alle heute leben dürfen.
Am Donnerstag wird Großbritannien entscheiden, ob es noch weiter Teil dieser Union sein will. Rechtlich ist das kein Problem – der Vertrag von Lissabon sieht vor, dass Länder aus der Union austreten können. Dies war getragen von der Überzeugung, dass es niemals so weit kommen würde. Schauen wir auf die Umfragen in Großbritannien, sprechen sie eine andere Sprache – 55% der Bürgerinnen und Bürger würden sich im Moment für einen Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union aussprechen. Diese Menschen sind überzeugt, dass die EU mehr kostet als sie einbringt, dass sie unzulässig in nationalstaatliche Entscheidungen hineinregiert und dass sie wie ein Klotz am Bein Großbritanniens ist: „Better off out“. ist dieses Gefühl nicht nachvollziehbar? Europa hat mit neuen Herausforderungen zu kämpfen, Migration und Flüchtlingselend zeigen uns zurzeit dramatisch unsere eigenen Schwächen auf. Der Wohlstand wächst nicht einfach automatisch immer weiter, die Mittelschicht hat große Angst vor Einkommens- und Statusverlust. Der Weg nach vorn ist nicht immer klar, auf viele Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Ist es da nicht verlockend und nicht vielleicht allzu menschlich, den Blick zurückzuwerfen und sich nach dem kleinen, eigenen Land zu sehnen?
Die Fakten zeigen allerdings ein anderes Bild: Für Großbritannien wird es nach einem Brexit zunächst deutlich weniger Handel mit Gütern und Dienstleistungen geben, die Arbeitskräfte aus der EU werden wegfallen, weil die Freizügigkeit nicht mehr greift und es werden weniger ausländische Direktinvestitionen ins Land fließen. Konkret bedeutet dies, dass britischen Familien durch einen EU-Austritt massive Einkommensverluste drohen. Schätzungen zufolge werden den einzelnen Haushalten mehrere tausend Pfund fehlen. Auch kann Großbritannien im Falle eines Austritts nicht erwarten, dass die wirtschaftlichen Privilegien eines Mitgliedsstaates erhalten bleiben.
Natürlich liegt es aus kontinentaler Sicht jetzt nahe, den Briten einfach zuzurufen, dass sie halt gehen sollen. Dies wäre aber genauso kurz gedacht wie die Illusion zu nähren, dass es Großbritannien ohne die EU bessergeht. Europa braucht Großbritannien, als Anker auch für die skandinavischen Länder und für die USA. Europa ohne Großbritannien ist nur schwer vorstellbar, ist es doch mit seiner Mentalität, seiner Geschichte und auch seinen Eigenheiten ein identitätsstiftender Teil unseres Kontinents.
Sicher, die Mitgliedsstaaten haben es versäumt, die EU weiterzuentwickeln. Wir sind stehengeblieben bei den offenen Grenzen, der gemeinsamen Währung, dem Binnenmarktprojekt, das stabilisierend wirkt und wohlstandssteigernd, aber nicht unbedingt Begeisterung für die europäische Idee entfacht. Wir brauchen dringend eine europäische Sozialpolitik, um europaweit für mehr Gerechtigkeit zu sorgen und den Menschen mehr Sicherheit zu geben. Leider waren bisherige Versuche, Europa weiter zusammenwachsen zu lassen, nicht von hinreichendem Erfolg gekrönt. Die Lissabon-Strategie, das ehrgeizige Vorhaben, mit der freiwilligen europäischen Weiterentwicklung nationaler Politik eine Anhebung des Lebensstandards zu erreichen, wurde nie richtig umgesetzt. Seitdem herrscht, was die weitere Gestaltung Europas angeht, vor allem Mut- und Ideenlosigkeit. Wir brauchen wieder Visionen für Europa. Es kann nicht sein, dass dieses großartige Projekt, das geschaffen wurde, die Angst voreinander zu überwinden, jetzt an der Angst vor der Zukunft zugrunde geht.
Dieser Artikel wurde verfasst, bevor uns die schreckliche Nachricht erreichte. Die britische Unterhaus-Abgeordnete Jo Cox wurde am Donnerstag Opfer eines Attentats in ihrem Wahlkreis in Yorkshire. Jo war Mitglied der Labour Party und vielen von uns durch ihre frühere berufliche Tätigkeit in Brüssel wohl vertraut. Sie stritt vehement für den Verbleib ihres Landes in der EU. Wir trauern mit ihrer Familie und ihren Freunden. Wir dürfen diesem Irrsinn und aufgepeitschten Hass keine Chance geben.