We Are Bigger Than That

Kolumne: Brüsseler Spitzen - Erschienen am 04.07.2016 im Gelnhäuser Tageblatt

Großbritannien hat entschieden, aus der EU auszutreten. In den ersten Tagen nach dieser Entscheidung ist klargeworden, dass die Politiker, die einen Brexit befürworten, offenbar keinen Plan haben, wie es jetzt weitergehen soll mit ihrem Land, das ihnen mehrheitlich vertraut hat. Nigel Farage, einer der Brexit-Protagonisten und Anführer der Britischen Unabhängigkeitspartei UKIP, ist seit seinem Erfolg vor allem damit beschäftigt, Versprechen wieder zu kassieren und Menschen anderer Meinung zu beleidigen. Boris Johnson, ehemaliger Londoner Bürgermeister und ebenfalls Brexit-Aktivist, verschanzt sich in seinem Haus, kann nur noch mit massivem Polizeischutz das Haus verlassen und veröffentlicht sinnlose Namensartikel. Premierminister David Cameron ist zurückgetreten, die schottische Regierung hat erklärt, dass sie ein Veto gegen den Austritt einlegen wird, zur Not selbst ein Referendum über die eigene Unabhängigkeit abhalten wird. Offener Rassismus hat deutlich zugenommen auf den Straßen Englands, scheinbar fühlen sich alle Rassisten durch den Sieg der „Leave“ Kampagne bestätigt, die hauptsächlich auf Ressentiments beruhte. Während des Wahlkampfes noch wurden wir Zeugen einer außer Kontrolle geratenen Demagogie, dessen Getöse und Gezänk sich vor allem eines Gefühls bediente: Angst. Angst vor Migranten, Angst davor, übervorteilt zu werden und der Angst, den Anschluss zu verlieren. Nach einer giftigen, populistischen Wahlschlacht; nach dem Mord an einer Parlamentarierin und einer Entscheidung, deren Folgen gar nicht abzusehen sind, steht Großbritannien ohne Plan und Perspektive da. Ein Land, in dem durch die Abstimmung alle Wunden aufgerissen wurden- alt gegen jung, reich gegen arm, Land gegen Stadt, Gewinner gegen Verlierer.

Die EU ist in einer schwierigen Situation – natürlich können wir nicht erpressbar sein, wir müssen eine klare Haltung zeigen. Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist kein Spezialitätenbuffet. Großbritannien wird sich nicht die Leckereien aussuchen können (Zugang zum Binnenmarkt, einseitige Freizügigkeit für Briten), ohne die daran geknüpften Bedingungen zu akzeptieren (finanzielle Beteiligung, Freizügigkeit nach Großbritannien). Das Land wirkt im Moment führungs- und ideenlos, grundsätzliche Richtungsentscheidungen scheinen nicht möglich zu sein – auf Kosten der Menschen. Dafür muss gerade Europa jetzt stabil bleiben und überlegt handeln, die Menschen sind verunsichert und brauchen Orientierung und Perspektive. Europa als Friedensprojekt ist in allererster Linie den Menschen verpflichtet, und zwar auch den Menschen, die gegen den Austritt gestimmt haben, den Menschen in Schottland und Nordirland, die wir nicht allein lassen können und wollen. Europa ist ein Kontinent, dem es endlich nach Jahrhunderten blutiger Kriege gelungen ist, eine Einheit herzstellen und diese zu institutionalisieren. Um das Erreichte müssen wir kämpfen, Neues müssen wir wagen. Wir müssen betonen was uns eint, nicht, was uns trennt. Wir können auf die parteipolitische der Tories in Großbritannien nicht auf dem gleichen niedrigen Niveau antworten, sondern müssen Ruhe bewahren und überlegen, wie Europa und seine Bürgerinnen und Bürger wieder zusammenfinden. Wir werden viel neu denken müssen in den nächsten Wochen und Monaten, es darf keine Denkverbote geben. Ganz Europa braucht jetzt eine klare Handlungsperspektive, eine sachliche Debatte und eine Rolle vorwärts für praktische Politik, die den Menschen in ihrem Alltag dient.