Von der Krisenunion zur Solidaritätsunion. Mehr Mut. Mehr Politik. Mehr Europa.
30. Oktober 2012
Von Udo Bullmann, Michael Roth und Thorsten Schäfer-Gümbel
Zusammenfassung
- Das bisherige Krisenmanagement der kurzfristigen Beruhigung der Finanzmärkte und der notdürftigen Flickschusterei an den Strukturen der Währungsunion ist an seine Grenzen gestoßen. Europa muss dauerhaft krisenfest und demokratischer werden.
- Um sich aus dem Würgegriff der Finanzmärkte zu befreien, braucht Europa eine Brandschutzmauer, die die Sicherheit der Staatsanleihen garantiert. Kurzfristig muss die EZB die Aufgabe als Stabilitätsanker der Eurozone übernehmen. Mittel-fristig müssen die Euro-Rettungsschirme zu einem Europäischen Währungsfonds umgebaut werden.
- Die Politik muss den außer Kontrolle geratenen Casino-Kapitalismus durch verbindliche Regeln wirksam bändigen, die europaweite Bankenkrise nachhaltig lösen und den Finanzsektor endlich an den Kosten der Krisenbewältigung beteiligen.
- Die Krise hat die Konstruktionsfehler der Eurozone schonungslos offengelegt. Die Währungsunion muss den Schritt zu einer echten Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion schaffen. Der Euro kann nur bestehen, wenn die Mitgliedstaaten auch ihre Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken verbindlich koordinieren.
- In einer Solidaritätsunion müssen verbindliche Absprachen in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sowie eine gemeinschaftliche Verantwortung für die Staatsschulden Hand in Hand gehen. Europa braucht einen parlamentarisch kon-trollierten EU-Finanzminister und eine gemeinsame Schuldenverwaltung.
Hintergrund
Die Eurozone bleibt gefangen in der Endlosschleife der Krise. Jeden Tag, den die Krise länger andauert, zeigt sich immer deutlicher: Die bisherigen Notmaßnahmen sind unzureichend, um den Teufelskreis aus Finanzmarkt-, Wirtschafts-, Staatsschulden- und Refinanzierungskrise zu durchbrechen. Mit den milliardenschweren Euro-Rettungsschirmen für finanziell angeschlagene Staaten und den Interventionen der Europäischen Zentralbank hat sich die Politik nur kurze Atempausen im Wettlauf mit den Finanzmärkten verschafft. Doch die teuer erkaufte Zeit wurde bislang nicht für den ersehnten Befreiungsschlag genutzt.
Stattdessen hangeln sich die Staats- und Regierungschefs von einem Krisengipfel zum nächsten und schauen hilflos zu, wie die Lage in der Eurozone immer weiter eskaliert. Aus der überschaubaren Griechenlandkrise ist eine Vertrauenskrise der gesamten Gemeinschaftswährung geworden, auch ein Auseinanderbrechen der Eurozone ist inzwischen nicht mehr undenkbar. Nach Griechenland musste der Rettungsschirm auch für Portugal und Irland aufgespannt werden. Ebenso erhielt der marode spanische Bankensektor eine Finanzspritze. Trotz gewaltiger Spar- und Reformanstrengungen ächzen Italien und Spanien noch immer unter steigenden Zinsen für ihre Staatsanleihen und können sich an den Kapitalmärkten kaum noch frisches Geld zu moderaten Konditionen leihen. Zudem sind alle krisengeschüttelten Euro-Staaten mittlerweile in eine schwere wirtschaftliche Rezession geschlittert, die auch die Arbeitslosenzahlen auf dramatische Höchststände ansteigen ließ.
Mitverantwortlich für das politische Versagen ist insbesondere Bundeskanzlerin Merkel, die ihrer wohlfeilen Ankündigung, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu retten, bislang nur bedingt Taten folgen ließ. Allein mit hektischer Schadensbegrenzung und kurzsichtigem Durchwurschteln lässt sich die Krise jedenfalls nicht unter Kontrolle bringen. Dabei mangelt es keineswegs an konkreten Lösungsansätzen. Was fehlt, sind allein der Mut und die Entschlossenheit der politisch Verantwortlichen, jetzt die längst überfälligen nächsten (Integrations-) Schritte zu gehen. Europa steht am Scheideweg. Große Krisen erfordern große Lösungen – und damit deutlich größere Schritte als Deutschland – und auch die deutsche Sozialdemokratie – bislang zu gehen bereit waren.
Dabei müssen wir uns von der Illusion trennen, es gebe noch einen Ausweg aus der Krise, der frei von Kosten und Risiken ist. Die Rückkehr zu einer stabilen Eurozone gibt es nicht zum Nulltarif. Auch Deutschland wird sich zur Überwindung der Krise auf erhebliche Risiken einlassen müssen. Die Euro-Rettung hat einen hohen Preis, doch sie hat für uns vor allem einen unschätzbar hohen Wert. Deutschland ist eben keine wohl behütete Insel der Glückseligen inmitten von einem Meer von Krisenstaaten. Diese Krise betrifft nicht nur die anderen – die Griechen, Portugiesen, Spanier und Italiener, sondern auch uns selbst. Etwa 40 Prozent der deutschen Exporte gehen in die Eurozone, wodurch hierzulande mehr als drei Millionen Arbeitsplätze gesichert werden. Der Exportnation Deutschland kann es auf Dauer nicht gut gehen, wenn die Wirtschaft im Rest Europas am Boden liegt. Deshalb liegt es im ureigensten Interesse Deutschlands, die Probleme der Währungsunion so rasch und nachhaltig wie möglich zu lösen. Wenn es uns aber nicht gelingt, unsere europäischen Partnerländer dauerhaft zu stabilisieren und das Auseinanderfallen der Eurozone zu verhindern, dann droht die Krise mit ganzer Wucht auf Deutschland überzugreifen. Daher retten wir nicht nur die krisengeschüttelten Staaten, sondern letztlich auch den wirtschaftlichen Wohlstand und die Arbeitsplätze in Deutschland.
Falsche Diagnose, falsche Therapie
Die seit vier Jahren ungebremste Talfahrt der Währungsunion zeigt, dass die Bundesregierung auf die falschen Rezepte gegen die Krise setzt. Das planlose Krisenmanagement beruht nicht zuletzt auf einer folgenschweren Fehldiagnose der Krisenursachen. Bundeskanzlerin Merkel ist es in einer Art Gehirnwäsche gelungen, große Teile der Bevölkerung und der veröffentlichten Meinung glauben zu lassen, Europa habe es mit einer reinen Staatsschuldenkrise zu tun. Dabei ist mangelnde Fiskaldisziplin keineswegs das Hauptproblem der Währungsunion – darüber kann auch der Sonderfall Griechenland nicht hinweg täuschen. Gemessen an den USA (103 Prozent) und Japan (230 Prozent) steht die Eurozone mit einer Verschuldungsquote von 88 Prozent der Wirtschaftsleistung sogar vergleichsweise gut da.
Resultierend aus der falschen Diagnose hat Merkel der Eurozone eine strikte Spartherapie verordnet, die die notleidenden Staaten noch tiefer in den Abwärtssog der Krise getrieben hat. Noch nie hat sich ein Land mitten in einer Rezession aus einer Krise heraus gespart. Neben Haushaltsdisziplin brauchen die überschuldeten Staa-ten dringlichst Impulse für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung, um dauerhaft wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Merkels vermeintliche „Stabilitätsunion“ hat sich letztlich ins Gegenteil verkehrt und zu einer weiteren politischen und ökonomischen Destabilisierung der krisengeschüttelten Staaten geführt.
Die einseitige Krisenanalyse der Bundeskanzlerin unterschlägt, dass die Misere der Währungsunion in Wahrheit auf systemische und institutionelle Fehlentwicklungen auf der europäischen und globalen Ebene zurückzuführen ist. So sind die massiven Schuldenprobleme vieler Euro-Staaten vor allem eine unmittelbare Folge der seit Jahren schwelenden weltweiten Finanzmarkt- und Bankenkrise. Hoch verschuldete Staaten wie Spanien oder Irland haben noch vor wenigen Jahren satte Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Erst mit dem Übergreifen der Krise auf Europa nach der Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 sind die Haushalte durch die gewaltigen Folgekosten für Bankenrettungen und Konjunkturpakete in eine dramatische Schieflage geraten. Es waren also mitnichten nur die Staaten, die über ihre Verhältnisse gelebt haben, sondern ein ungezügelter Finanzsektor, der sich in hochgradig riskanten Spekulationen statt in solider Kreditfinanzierung verausgabt hat. Die Krise war damit auch das Ergebnis eines Jahrzehnts des neoliberalen Zeitgeists, in dem die Finanzmärkte durch Deregulierung erst entfesselt und zu spekulativen Exzessen eingeladen wurden. Dieser Entwicklung hat sich leider auch die rot-grüne Bundesregierung nicht entschieden genug entgegen gestellt. Es bleibt eine zentrale Aufgabe der Politik, den außer Kontrolle geratenen Casino-Finanzkapitalismus durch verbindliche Regeln wirksam zu bändigen und endlich auch die Verursacher der Krise an ihren Folgekosten zu beteiligen.
Darüber hinaus hat die Krise die gravierenden Konstruktionsmängel im institutionellen Aufbau der Eurozone schonungslos offengelegt. Die Eurozone war von Beginn an nur als Währungsunion, aber nicht als Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion konzipiert. Die Lissabon-Strategie legte zwar im Grundsatz ein intelligentes Fundament, um Anreize für Investitionen in Wachstum und Beschäftigung zu setzen und die strukturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten anzugleichen. Doch die mehrheitlich konservativen Staats- und Regierungschefs weigerten sich standhaft, dem Regelwerk zu einer verbindlichen Durchsetzung zu verhelfen. Infolgedessen ist die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Euro-Staaten in den vergangenen Jahren immer weiter auseinander gedriftet. Auf Dauer kann der Euro jedoch nur erfolgreich bestehen, wenn die Mitgliedstaaten nicht nur eine gemeinsame Geldpolitik betreiben, sondern auch ihre Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitiken verbindlich koordinieren. Nur so kann die Grundlage für den Abbau der strukturellen Ungleichgewichte und für mehr Konvergenz in der Eurozone gelegt werden.
Was jetzt zu tun ist
Die Krise ist schon lange nicht mehr nur eine Krise überschuldeter, nicht mehr wettbewerbsfähiger Staaten, die sich an den Märkten kaum noch refinanzieren können. Wir erleben in Europa derzeit auch eine dramatische Krise der Solidarität und der Demokratie. Das bisherige Krisenmanagement der kurzfristigen Beruhigung der Finanzmärkte und der notdürftigen Flickschusterei an den Strukturen der Währungsunion ist an seine Grenzen gestoßen. Um Europa dauerhaft krisenfest und demokratischer zu machen, muss sich die europäische Politik nun endlich vier zentralen Aufgaben widmen: Erstens ist das Vertrauen an den Anleihenmärkten wiederherzustellen, zweitens sind die Finanzmärkte umfassend zu regulieren, drittens muss die Währungsunion zu einer echten Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion ausgebaut werden und viertens ist europäische Solidarität durch mehr gemeinschaftliche Verantwortung neu zu begründen.
1. Vertrauenskrise an den Anleihenmärkten kurzfristig lösen
Unablässig rollen immer höhere Spekulationswellen auf die Eurozone zu. Um sich aus dem Würgegriff der panischen Märkte zu befreien, braucht Europa endlich eine massive Brandschutzmauer, die die Sicherheit der Staatsanleihen im Euroraum ein für alle Mal glaubhaft garantiert. Kurzfristig kann nur die Europäische Zentralbank diese Aufgabe als letzter Stabilitätsanker der Eurozone übernehmen. Solange alle Wege für eine politische Lösung der Refinanzierungskrise versperrt sind, vermag es alleine die EZB, das Vertrauen in die Gemeinschaftswährung wiederherzustellen. Ihre Entscheidung, künftig unbegrenzte Anleihenkäufe angeschlagener Euro-Staaten zu tätigen, um die überhöhten Zinsen wieder auf ein tragfähiges Niveau zu drücken, ist die längst überfällige Kampfansage an die spekulativen Attacken gegen den Euro.
Das beherzte Eingreifen der EZB zeigt, dass sie entschlossen ist, den Euro und damit auch die Währungsunion als Ganzes zu verteidigen. Damit muss die EZB wieder einmal in die Bresche springen und die heißen Eisen für die Staats- und Regierungschefs aus dem Feuer holen. Schließlich war es nicht das planlose Krisenmanagement der europäischen Politik, sondern alleine die EZB, die mit ihren Stützungsmaßnahmen zuletzt eine weitere Eskalation der Krise verhindert hat. Vor allem Bundeskanzlerin Merkel und ihre schwarz-gelbe Koalition verschließen sich nach wie vor einer politischen Lösung der Krise und schieben die Verantwortung für die Stabilisierung des Euro lieber auf die EZB ab. Doch wer die Zentralbank dauerhaft als Krisenfeuerwehr in den Einsatz schicken will, der sollte auch den Mut haben, das offen auszusprechen. Das bedeutet, dass sich Bundesregierung und Bundesbank offen für eine Mandatsausübung der EZB aussprechen sollten, die der Rolle anderer internationaler Notenbanken in nichts nachsteht.
Es spricht jedenfalls nicht für Mut und Tatkraft der Politik, wenn sie aus lauter Verzweiflung die EZB ins Zentrum aller Rettungsversuche drängt. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine unabhängige Zentralbank weder durch demokratische Wahlen legitimiert noch politisch steuerbar noch einer parlamentarischen Kontrolle unterworfen sein kann. Die deutlich bessere Alternative ist daher zweifellos, den permanenten Euro-Rettungsfonds ESM mittelfristig zu einem Europäischen Währungsfonds umzubauen, der durch eine Banklizenz die erforderliche Schlagkraft erhält und wirksam kontrolliert wird. Hierbei müssen die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament Hand in Hand arbeiten, um jeweils für ihren Verantwortungsbereich sicherzustellen, dass die Gewährung und Konditionierung der Finanzhilfen sowie die Einhaltung der Auflagen in den Empfängerländern parlamentarisch überwacht werden. Auf diese Weise ließen sich unbegrenzte Liquidität und demokratische Legitimation des Rettungsschirms sinnvoll miteinander verbinden – diese Kombination schafft Vertrauen an den Märkten und bei den verunsicherten Bürgern zugleich.
2. Finanzmärkte umfassend regulieren und eine Bankenunion etablieren
Die Finanzwelt besteht keineswegs nur aus verantwortungslosen Zockern, die sich aus reiner Profitgier immer riskanteren Spekulationsgeschäften hingeben. Vielmehr haben unzureichende Regulierung, falsche Anreizsysteme und das Treiben einiger schwarzer Schafe nicht nur einen gigantischen finanziellen und volkswirtschaftlichen Schaden in ganz Europa angerichtet, sondern auch eine ganze Branche in Verruf gebracht. Trotz aller spekulativen Exzesse ist und bleibt ein gesunder Finanzsektor auch künftig unverzichtbar, um Realwirtschaft und Verbraucher mit Kapital zu versorgen.
Die Lehre aus den Fehlern der Vergangenheit lautet aber auch: Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein Markt darf künftig mehr unreguliert und ohne Aufsicht bleiben. Es gilt, endlich das Primat der Politik über die Märkte wiederherzustellen, um zu verhindern, dass der Finanzkapitalismus erneut aus dem Ruder laufen kann. Auf dem Weg zu diesem ambitionierten Ziel wurden auf EU-Ebene inzwischen einige Fortschritte erzielt: Banken, Versicherungen und der Wertpapierhandel werden seit 2011 von europäischen Finanzaufsichtsbehörden überwacht. Die Eigenkapitalanforderungen für Finanzinstitute sind deutlich verschärft und der Mindestschutz für Bankeinlagen europaweit harmonisiert worden. Auch Ratingagenturen müssen sich mittlerweile klaren europäischen Regeln unterwerfen. Mit ungedeckten Kreditausfallversicherungen wurde zudem erstmals ein spekulatives Finanzprodukt verboten. Doch darüber hinaus besteht weiterhin großer Handlungsbedarf: Wir brauchen strengere Regeln für Schattenbanken, ungedeckte Leerverkäufe und den Hochfrequenzhandel mit Wertpapieren sowie eine Überarbeitung der geltenden Finanzmarktrichtlinie und der Vorschriften gegen Marktmissbrauch.
Ein zentraler Schlüssel zur Überwindung der Krise ist die nachhaltige Lösung der Bankenkrise in Europa. Wie bei den jüngst beschlossenen Nothilfen für den spanischen Bankensektor kann die Rettung maroder Finanzinstitute in bestimmten Fällen notwendig sein – nicht als reiner Selbstzweck, sondern um Schaden von der Realwirtschaft abzuwenden. Klar ist aber ebenso: Es darf in Zukunft keine Rettungsmanöver für Finanzinstitute mehr geben, bei denen die Steuerzahler für die Risikogeschäfte von Banken haften. Daher brauchen wir endlich einen europäischen Bankenabwicklungsfonds, der sich aus den Erträgen einer europaweiten Bankenabgabe speist. Damit könnten Banken ohne tragfähiges Geschäftsmodell abgewickelt werden, ohne ganze Volkswirtschaften mit in den Abwärtsstrudel zu ziehen. Notwendig ist zudem die Trennung von hochspekulativem Investmentbanking und klassischem Kreditgeschäft.
Kurzfristig steht vor allem die zügige Etablierung einer schlagkräftigen europäischen Bankenaufsicht auf der Agenda. Große, grenzüberschreitend tätige Banken sind auf europäischer Ebene so zu überwachen, dass sie nicht mehr das gesamte Finanzsystem ins Wanken bringen können. Jedoch kann auch von kleineren Banken mit riskanten Geschäftsmodellen eine ernsthafte Gefährdung ausgehen. Daher bietet sich ein doppelter Filter nach der Bilanzsumme im Verhältnis zum Bruttonationalprodukt und dem Risikoprofil an. Banken, die groß und/oder risikobelastet sind, gehören ins europäische Aufsichtssystem. Die EZB wird jedoch – wie von der Kommission kürzlich vorgeschlagen – unmöglich alle 6.000 Banken in der Eurozone überwachen können. Akteure mit überschaubarem Risiko wie die örtliche Sparkasse können getrost unter nationaler Aufsicht bleiben. Wo auch immer die Bankenaufsicht letztlich angesiedelt wird: Die verantwortliche Instanz muss zwingend der Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegen.
Ganz oben auf der politischen Agenda bleibt die rasche Einführung einer Finanztransaktionssteuer, mit der endlich auch der Finanzsektor für die gewaltigen Kosten der Krisenbewältigung zur Kasse gebeten werden soll. Es ist vor allem eine Frage der Gerechtigkeit, dass die alleinige Hauptlast der Krise nicht nur bei den Steuerzahlern liegt, sondern auch die Krisenverursacher einen angemessenen Beitrag leisten, um den Scherbenhaufen zu beseitigen, den sie selbst hinterlassen haben. Erst auf Druck der SPD haben Union und FDP ihre Blockadehaltung aufgegeben und zugesagt, die Finanztransaktionssteuer notfalls auch auf dem Wege der verstärkten Zusammenarbeit einführen zu wollen. Den Ankündigungen müssen nun Taten folgen, zumal bereits elf Mitgliedstaaten der Spekulationssteuer grünes Licht erteilt haben.
3. Währungsunion zur echten Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion ausbauen
Die Zeit ist reif für „mehr Europa“, für den Sprung zu einer echten Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion. Weder 1992 in Maastricht noch mit dem Vertrag von Lissabon gab es die Kraft und Bereitschaft zu diesem Integrationsschritt. Die aktuelle Krise hat uns vor Augen geführt, dass die Nationalstaaten alter Prägung mittlerweile in vielen Politikbereichen an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit stoßen. In einer immer stärker globalisierten Welt machen die Probleme nicht an Staatsgrenzen halt, sie lassen sich nur durch gemeinsames europäisches Handeln bewältigen. Weder Deutschland noch ein anderer EU-Staat ist in der Lage, im Alleingang die gemeinsame Währung zu sichern, die Finanzmärkte wirksam zu regulieren, die Errungenschaften des Sozialstaats zu bewahren und den wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern. Kurzum: Wer „mehr Europa“ ablehnt, der hat die Krise nicht verstanden. Denn Europa ist nicht das Problem, sondern unsere Lebensversicherung in Krisenzeiten. Nur mit Europa können wir endlich politische Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft wieder zurückgewinnen.
Die bisher vereinbarten Instrumente zur wirtschaftspolitischen Koordinierung und Haushaltsüberwachung sind die Keimzelle einer europäischen Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion. Doch Mechanismen wie das Europäische Semester, die EU-2020-Strategie, der Euro-Plus-Pakt, der Fiskalvertrag sowie die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts („Sixpack“) vermögen nicht, den Geburtsfehler der Währungsunion zu beheben. Damit der nächste Integrationsschritt ein Erfolg wird, müssen die Euro-Staaten bereit sein, einen beträchtlichen Teil ihrer nationalen Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auf die europäische Ebene zu übertragen. Europas Vielfalt steht bei einer verbindlichen Abstimmung der nationalen Politiken nicht zur Disposition. Denn konkret bedeutet „mehr Europa“ nicht etwa die Gleichmacherei aller nationalen Besonderheiten. Vielmehr muss auch eine Wirt-schafts-, Fiskal- und Sozialunion den Mitgliedstaaten ausreichend Raum für Flexibilität lassen. Das ist möglich, wenn verbindliche Leitlinien für die nationalen Haushaltspläne sowie europaweit geltende Zielkorridore für Löhne, Steuern und öffentliche Ausgaben vereinbart werden. Über diese verbindliche Koordinierung ließe sich auch das konservative Sparmantra überwinden und ein europäischer Beitrag zu mehr Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit leisten.
Doch „mehr Europa“ darf nicht zu weniger Demokratie führen. Denn Europa lässt sich nicht über die Köpfe der Bürger und ihrer Volksvertreter hinweg aus der Vertrauenskrise führen. Im Schatten der Krise haben die Staats- und Regierungschefs um Bundeskanzlerin Merkel auch der Demokratie in Europa ein striktes Sparprogramm verordnet. Sie haben ein „Europa der Regierungen“ geschaffen, in dem die europäischen Gemeinschaftsinstitutionen und die nationalen Parlamente mehr und mehr an den Rand gedrängt werden. Mit einem Krisenmanagement, das vorrangig auf Geheimabsprachen in Hinterzimmern beruht, droht jedoch die parlamentarische Demokratie in Europa auf der Strecke zu bleiben.
Daher ist es unerlässlich, dass die künftige Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion partnerschaftlich durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente mitgestaltet und kontrolliert wird. Die Verantwortung für ein demokratisches Europa kann nur von einem gestärkten Europäischen Parlament und von aktiven nationalen Parlamenten gemeinsam wahrgenommen werden. Nur so kann aus dem „Europa der Regierungen“ ein demokratisches „Europa der Parlamente“ werden. Nationale Parlamente müssen Transparenz und Verantwortung des Regierungshandelns sicherstellen – das schließt auch das Handeln der nationalen Regierungen auf der europäischen Bühne mit ein. Entscheidungen über grenzüberschreitende Umverteilungseffekte von Einkommen und Vermögen müssen hingegen dem Europäischen Parlament obliegen.
4. Solidaritätsunion mit gemeinschaftlicher Verantwortung begründen
Die Euro-Staaten sind mit ihrem Beitritt zur Währungsunion eine unumkehrbare Schicksalsgemeinschaft eingegangen, von der sie in vielen Bereichen massiv profitieren, die im Gegenzug aber auch zu gegenseitiger Verantwortung verpflichtet – in guten wie in schlechten Zeiten. Die Solidarität der Starken mit den Schwachen ist dabei kein reiner Selbstzweck, sondern auch ein starkes Signal für die Selbstbehauptung der Eurozone nach außen: Wir lassen uns von Spekulanten nicht in die Knie zwingen, die Währungsunion steht geschlossen zusammen.
Eine Solidaritätsunion nach sozialdemokratischer Vorstellung hat jedoch wenig zu tun mit billigen politischen Kampfbegriffen wie „Schuldengemeinschaft“ oder „Transferunion“, die derzeit die öffentliche Debatte bestimmen. Schließlich geht es bei der Vielzahl ganz unterschiedlicher Modelle – von Stabilitätsanleihen über Red/Blue Bonds und Eurobills bis hin zum Altschuldentilgungsfonds – mitnichten darum, pauschal eine gesamtschuldnerische Haftung aller für alles zu organisieren. Niemand fordert den Einstieg in eine bedingungslose Haftungsgemeinschaft. Faktisch ist der Einstieg in die Gemeinschaftshaftung durch die Anleihenkäufe der EZB bereits erfolgt – nur fehlt der Bundesregierung der Anstand, dies offen einzugestehen. Öffentlich schließt die Bundeskanzlerin eine Haftung für die Schulden anderer Euro-Staaten gerne mit drastischen Worten („Nicht solange ich lebe!“) aus, dabei hat sie die Hintertür in die Haftungsunion längst geöffnet – allerdings ohne demokratische Kontrolle, transparente Auflagen und faire Chancen für die finanziell angeschlagenen Staaten.
Aus unserer Sicht muss der Weg in die Solidaritätsunion verbindliche Absprachen zur gemeinsamen Politik mit gemeinschaftlicher Verantwortung kombinieren. Statt die nationale Haushaltskompetenz auszuhöhlen, müssen auf europäischer Ebene verbindliche Leitlinien für Haushaltsdisziplin sowie eine nachhaltige Wachstums- und Beschäftigungspolitik vereinbart werden. Ein starker EU-Finanzminister kann hierzu Vorschläge unterbreiten und die Umsetzung überwachen – allerdings nur, wenn er voller parlamentarischer Kontrolle untersteht.
In einer Solidaritätsunion ist eine gemeinsame Schuldenverwaltung zum Vorteil aller Beteiligten. Sie vertieft den gemeinsamen Anleihenmarkt und macht ihn verlässlicher und effektiver. Ein Einstieg kann zunächst über eine begrenzte Ausgabe von Ge-meinschaftsanleihen erfolgen. Der vom Sachverständigenrat der Bundesregierung vorgeschlagene Altschuldentilgungsfonds hilft, die angeschlagenen Staaten wieder in die Wachstumszone zu führen.
Mehr Mut. Mehr Politik. Mehr Europa.
Die deutsche Sozialdemokratie bekennt sich zu ihrer Geschichte als Partei der internationalen und europäischen Solidarität und steht zu ihrer Verantwortung für Europa. Mit ihrer Zustimmung zu den Rettungsmaßnahmen hat sie es sich als Oppositionspartei nicht leicht gemacht. Will die SPD glaubwürdig bleiben, muss sie diesen Weg konsequent fortsetzen. Sie darf sich nicht wegducken, sondern muss die Alternativen zur verzagten und orientierungslosen Politik der Bundesregierung klar benennen – und offensiv dafür werben. Nur so kann Vertrauen und Zuversicht in der Bevölkerung wieder wachsen. Es gibt so unendlich viel zu verlieren, wenn die SPD aus Angst vor dem vermeintlichen Mainstream der öffentlichen und veröffentlichten Meinung einknickt. Eine Partei, die bereit ist, erneut politische Verantwortung in Europa, im Bund und in den Bundesländern zu übernehmen, sollte sich klar bekennen: Zu mehr Mut. Mehr Politik. Und mehr Europa.
Über die Autoren
Dr. Udo Bullmann, MdEP, ist Vorsitzender der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament und Mitglied des Landesvorstands der SPD Hessen.
Michael Roth, MdB, ist europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Generalsekretär der SPD Hessen.
Thorsten Schäfer-Gümbel, MdL, ist Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD Hessen und Mitglied des Parteivorstands der SPD